Marc Schweska
Zur letzten Instanz
Eichborn Verlag, 2011
Das von der Sonne auf die Kugel des Fernsehturms gemalte Kreuz, das
der Volksmund als Rache des Papstes bewitzelte, die Fickzellen von
Hoyerswerda, HaNeu und Marzahn, die Genitiv-Häuser am
Alexanderplatz, die „Haus des …“, sollten einem geläufig sein. Auch
ein paar Namen wie Womacka oder Ardenne. Wenn man zudem im Titel des
Buches die Alt-Berliner Wirtschaft hinter der Parochialkirche in der
Waisenstraße erkennt, steht einem Einschwingen auf die Grundstimmung
dieses Ost-Berlin-Romans nichts mehr im Wege. Durchaus liebevoll,
aber immer spöttisch und derb ist der Ton, in dem Marc Schweska
seine Geschichte entfaltet, die sich zwischen Berlin, Moskau und
Prag abspielt.
Nur kurz lässt er die Technik- und Fortschrittsbegeisterung der
frühen Jahre aufblitzen: Stahlwerke, Spreetunnel oder der
Backsteinexpressionismus des Kraftwerkes Klingenberg sind Zeugen
einer Zeit, als das „Völker hört die Signale!“ der Internationale
noch eine Zukunft versprach, die mit der Kraft einer Dampflok
daherrauschte. Der sozialistische Mythos der Schwerindustrie weicht
aber schon bald der Faszination für kybernetische Tüfteleien. Der
erste sowjetische Kontinentalcomputer, MESM von 1950, Thema von
Vorlesungen an der Moskauer Universität, schlägt West- wie
Ostwissenschaftler in den Bann und Wissenschaftler wie Ernst Bloch
und Roman Jakobson werden als philosophisch-philologische
Grenzgänger wahrgenommen.
Briefe an Uni-Administrationen, an Chefs oder Kollegen lassen die
Alltagswirklichkeiten im realen Sozialismus aufscheinen, auf den die
Protagonisten mit einem „merkwürdigen Ping-Pong zwischen Verbeugung
und Aufstand“ reagieren. Die Ironie ist immer Teil des Versuches
sich der Zwänge zu erwehren. So wird die Allee der Kosmonauten für
die Freunde um den Computerfreak Lem zur Allee der Kybernauten und
der Tunnelbau ist Freizeitbeschäftigung, noch ohne Fluchtabsicht.
Der Roman bietet eine entspannte, individuelle Innensicht der DDR,
die die persönlichen Erfahrungen und den Anekdotenschatz nicht nur
des Autoren selbst rigoros ausschöpft und deshalb ohne die üblichen
Verteufelungen oder nostalgischen Überhöhungen auskommt. Am Ende
steht eine Liebesgeschichte und ein Slogan, dessen kämpferische
Gewissheit nach und nach eine ganze Generation erfasst: „Ihr habt
nicht gefragt, ob wir geboren werden wollen, also sagt uns nicht,
wie wir leben sollen!“
Das Debüt-Werk des 1967 in Berlin geborenen Autors und ehemaligen
Elektronikers Marc Sweska ist ein 360 Seiten starker, schön
gestalteter Band aus der „Anderen Bibliothek“. Ein dreiseitiges
Glossar ist bei der Entzifferung der verwendeten Abkürzungen und für
das Verständnis verschiedener Jargongeheimnisse hilfreich. (hkl)
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