Ernst Haffner
Blutsbrüder:
Ein Berliner Cliquenroman
Walde + Graf bei Metrolit, 2013
Sie feiern, wie Siegfried Krakauer in den 1930iger Jahren in der
Frankfurter Zeitung schrieb, nach „ziemlich geheimnisvollen und
anstößigen Riten romantische Dreigroschenoperfeste“. Sie, das sind
Berliner Jugendliche, die sich in dauernder Flucht vor Fürsorgeheim und
Knast – gibt es da überhaupt einen Unterschied? – ihren eigenen Kosmos
schaffen, mit eigenen Gesetzen und schrillen Ritualen. Geografisch sind
das die Straßen der Stadt und in engerem Sinne ein Netz von Kneipen und
Kaschemmen, seltsamen Absteigen und verlassenen Fabrikhallen zwischen
Berliner Norden, Alexanderplatz und Münzviertel, Görlitzer und
Schlesischem Bahnhof, Hermannplatz und Tauentzien. Es sind schiefe
soziale Räume, in denen Prostitution und Kriminalität keine Frage des
Charakters oder der Veranlagung sondern quasi objektive
Alltagsgegebenheiten sind.
In den großen Linien, und von den lakonischen Kapitelüberschriften in
drei, vier Stichworten vorab verraten, ist der Ausgang der Geschichte
voraussehbar: die Fürsorgezöglinge werden an der endlosen Kette
staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt zu schanden. Dass sie das
nicht sofort werden und wie lange sie physisch und seelisch durchhalten,
die Kreativität der Clique, ihr Schutz- wie auch ihr
Repressionspotential, das ist es, das den Leser in Atem hält.
Hinzu kommt die distanzierte Nähe, die Ernst Haffner zu seinen Figuren
unterhält. Bei aller Empathie gelingt es ihm, ihnen „keine Moral
unterzujubeln, die nicht die ihre ist“. So erklärt sich auch sein
Verzicht auf jedes politische Kolorit, obwohl das Buch, das 1932, in
turbulenter Zeit, erstmals erschien, wie geschaffen dafür scheint. Die
Biografie des Autors dieser wieder entdeckten, kraftvoll-authentischen
Milieugeschichte bleibt dabei erstaunlich dunkel. Er sei Journalist und
Sozialarbeiter gewesen und habe zwischen 1925 und 1933 in Berlin gelebt. (ak)
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