Anne-Christin
Saß
Berliner Luftmenschen.
Osteuropäisch-jüdische Migranten
in der Weimarer Republik
Wallstein Verlag, 2012
Das Berliner Scheunenviertel, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
noch Elendsquartier und ostjüdisches Ghetto, wird heute gern als
romantischer Sehnsuchtsort, als harmonisches, dörfliches Schtetl
wahrgenommen. Die Ursachen für diese Sicht liegen in einem
Ostjudenkult, der vor fast einem Jahrhundert während des Ersten
Weltkriegs aufkam. Danach galt der Ostjude unter seinen
Glaubensgenossen als wahrer Repräsentant jüdischer Kultur und
Religiosität oder – die Kehrseite – als anpassungsunfähige,
hinterweltlerische, geradezu asoziale Gestalt. Unter den Migranten
selbst gab es höchst widerstreitende Ansichten darüber, wem das
Etikett „Ostjuden“ zukam und welche Bedeutung diese um die
Jahrhundertwende im Deutschen Kaiserreich entstandene
Fremdzuschreibung nach dem Ersten Weltkrieg noch besaß.
Anne-Christin Saß konfrontiert in ihrer faszinierend materialreichen
ethnographischen Studie diese Projektionen vom Ostjuden mit den
verschiedenen religiösen, kulturellen, politischen und ökonomischen
Wirklichkeiten, die die russischen, polnisch-litauischen und
galizischen Juden bei ihrer Migration nach Berlin im Gepäck hatten.
Die anspielungsreiche Eigenbezeichnung „Luftmenschen“ verzichtet auf
jede Herkunftsangabe und beschränkt sich auf die Lebenslage der nach
dem Zerfall der multinationalen Großreiche, nach Revolution und
Bürgerkrieg, arbeits- und perspektivlos gewordenen, von „Luft“
lebenden osteuropäischen Juden. Berlin sollte auf ihrem Weg nach
Übersee nur eine Durchgangsstation sein, wurde aber für viele in den
20er Jahren, nach der gescheiterten Weiterwanderung, zur temporären
Heimat. Wurden 1910 für Berlin Mitte etwa 10 000, für Charlottenburg
1 500 und für Schöneberg und Wilmersdorf je 500 ostjüdische, aus
Russland, Galizien und Rumänien stammende Einwohner angenommen, so
schrieb Joseph Roth zehn Jahre später: „Im ganzen sind 50 000
Menschen aus dem Osten gekommen. Es sieht freilich so aus, als wären
es Millionen. Denn das Elend sieht man doppelt, dreifach, zehnfach.“
Tatsächlich war die Bevölkerungsdichte im Scheunenviertel, also in
der Dragoner-, Grenadier-, Linien-, Rücker- oder Mulackstraße, in
den 20er Jahren etwa fünfmal so hoch wie im Berliner Durchschnitt.
In dieser Enge lebten vorwiegend Juden aus Galizien und
Kongresspolen. Das öffentliche Leben mit einem florierenden
Straßenhandel, einer Vielzahl von Betstuben, deutsch-jüdischen
Fürsorgeinstitutionen und landsmannschaftlichen Migrantenvereinen
spiegelte nicht nur Armut und Beengtheit sondern auch ein Stück
Orient im Herzen der deutschen Hauptstadt. Ganz andere Verhältnisse
fand man im Russkij Berlin vor, der Gegend zwischen Kantstraße,
Nollendorfplatz, Prager Platz und Bayrischem Platz. Hier in
Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf, wo sich vorwiegend
russisch-jüdische Migranten niederließen, dominierten Kultur- und
Wissenschaftsvereine, berufliche Interessensgruppen und
transnationale jüdische Hilfsorganisationen.
Die Arbeit unternimmt den Versuch in die vielfältigen
wechselseitigen Beziehungen zwischen nichtjüdischer
Mehrheitsgesellschaft, deutschen Juden und osteuropäisch-jüdischen
Migranten einzudringen und den Blick auf die multikulturellen
Ansätze Berlins freizulegen.
Die osteuropäisch-jüdischen Migranten erscheinen dabei als äußerst
heterogene Gruppe mobiler, vielsprachiger und flexibler Handels- und
Modernisierungsträger, die im wesentlichen durch die gemeinsame
Erfahrung struktureller gesellschaftlicher Ausgeschlossenheit geeint
wird.
Dennoch verdient sich die Stadt während einiger Jahre in den 20ern
Prädikate wie Metropole hebräischer Kultur oder Zentrum eines
pulsierenden jiddischen Mikrokosmos. Es sind die vielschichtigen,
den verschiedenen Judenheiten entsprechenden Kommunikationsräume
wie das Romanische Café oder das Café New York, das Logirhaus
Centrum, die Pension Struck in der Uhlandstraße, das Arbeiterheim
Ber Borochow, das Logenhaus in der Kleiststraße, die Leihbibliothek
und Buchhandlung David Rosenbergs oder Rosa’s Little Russia in der
Rückerstraße, weshalb Berlin nach jüdischem Zeugnis in dieser Zeit
einzigartig ist – die „einzige jüdische Stadt der Welt … in der sich
jüdische Menschen treffen, zusammenleben, sich einander annähern und
von einander lernen – ohne Hass, ohne Verbitterung, ohne Gift …“
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