Sabine Gruber und Ulrich Ott
(Hg.):
Harry Graf Kessler
Das Tagebuch 1880-1937
Neunter Band 1926-1937
Mehr als in den vorangegangenen Bänden dieses gewaltigen
zeitgeschichtlichen Panoramas bestimmen in den hier vorgestellten
Tagebucheintragungen aus den letzten zehn Lebensjahren zunehmend
persönliche Züge und tragische Erlebnisse des Autors den Text. Der
in England, Frankreich und Deutschland aufgewachsene und erzogene
Kessler, der 1879 von Kaiser Wilhelm I. – in dem manche seinen
tatsächlichen Vater vermuten – in den Adelsstand erhoben worden war
und der mit großer Begabung auf diplomatischem Parkett, wie in
Salons und Künstlerkreisen brillierte, offenbart zunehmend eine
vorher an ihm nicht wahrgenommene Gemütslage, die Einsamkeit.
Weiter spiegeln sich in den mitgeteilten Begegnungen mit Männern und
Frauen aus Kunst und Politik die großen Ereignisse der
Zeitgeschichte, wie in einem, auf dramatische Weise prophetischen
Gespräch mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Carl von
Schubert, deutlich wird, das Kessler am 9. Januar 1929 skizzierte:
„Er wiederholte, was er mir schon früher gesagt hat, dass eine
Stabilisierung Europas unbedingt nötig sei, sonst könnten wir eines
Tages plötzlich vor einer Katastrophe stehen, gegen die der
Bolschewismus als ein Kinderspiel erscheinen werde. Er scheint von
dieser ängstlichen Sorge ganz beherrscht, spricht davon in fast
apokalyptischen Worten.“
Die Verfassung Kesslers wird Ende der 20er und in den 30er Jahren
stark von dem Niedergang der Weimarer Republik, von herben
menschlichen und finanziellen Verlusten und von schweren Krankheiten
verdunkelt. Drei seiner Weggefährten – Hugo von Hofmannsthal, Gustav
Stresemann und Sergei Pawlowitsch Djagilew – sterben 1929. Die
Weltwirtschaftskrise hat seine wirtschaftliche Situation dramatisch
verschlechtert; auch nagt an ihm, dass ihm Zeit seines Lebens nie
ein großer eigener künstlerischer Wurf gelungen war.
So verbringt Kessler, der als Organisator, Arrangeur, Mäzen und
Ideengeber oft im Zentrum künstlerischer wie
politisch-diplomatischer Entwicklungen stand, seine letzten Jahre,
verschärft noch durch Krankheit und Exil, einsam und in Abhängigkeit
von dem Geld seiner Schwester, Wilma de Brion. Ein Tagebucheintrag
vom 12. November 1931, der den Abtransport seiner geliebten, von
Aristide Maillol gefertigten Méditerrannée-Skulptur, schildert, die
er an den Schweizer Sammler Oskar Reinhart verkaufen musste,
kennzeichnet die Nöte des Grafen in dieser Zeit: „Vormittags kamen
die Arbeiter von Knauer, bauten das Gerüst vor dem Fenster auf und
holten die Figur. Um 2 Uhr 5 Minuten glitt sie, in ein großes Tuch
gehüllt, als ob sie selber trauerte und ihr Haupt verhüllte, zum
Fenster hinaus. Das Gesicht schien, als sie ins Freie kam u. das
Licht es berührte, noch einmal in strahlender Schönheit aufzublühen.
Mir war es ein Schmerz, den ich nie ganz verwinden werde.“
Am 30. September 1937, zwei Monate vor seinem Tod, enden die 54
Jahre lang geführten Tagebucheinträge Kesslers.
Mehr als 300 der 1050 Seiten des Bandes entfallen auf das
Namensregister, das nicht nur die Namen von Orten und Personen
auflistet, sondern auch Notizen zur Bedeutung ihrer Träger enthält.
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