Roy Knocke, Werner Treß (Hg.)
Franz Werfel und der
Genozid an den Armeniern
De Gruyter; Oldenbourg, 2015.
Franz Werfel
fand die Quellen für
seinen weltberühmten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ in
den Schriften des evangelischen Theologen und engagierten Streiters
für die Armenier, Johannes Lepsius , in den Aufzeichnungen des französischen
Gesandten Comte Clauzel und im Archiv eines armenischen Klosters in
Wien. Seine Anklage bekommt, neben der konkreten Darstellung des
Versuchs eines Völkermords an den Armeniern, einen allgemeinen
Charakter und richtet sich gegen etwas „weit Entsetzlicheres als zügellose
Willkür (…) nämlich machtgestützte Ordnung und ein flächendeckendes
planvolles Vorgehen.“ Es ist eine Anklageschrift gegen den europäischen
Nationalismus, den sich die Jungtürken zu Eigen gemacht haben und
der im Dritten Reich seine heftigste Steigerung erlebte.
Das Leid von halbverhungerten armenischen Waisenkindern auf einem
Damaszener Markt traf den Schriftsteller Franz Werfel 1930 auf
einer Nahostreise mit seiner Lebensgefährtin Alma Mahler-Gropius so
tief, dass er beschloss dem Völkermord an den Armeniern im späten
Osmanischen Reich ein literarisches Mahnmal zu setzen. Der akribisch,
wie ein Geschichtswerk, recherchierte Roman erzählt die Geschichte
eines 5000-Seelen-Dorfes, dessen Bewohner sich, nur spärlich
bewaffnet, auf einem Berg vor den heranrückenden türkischen
Truppen verschanzen und drei Angriffswellen abwehren können, bevor
ein französisches Kriegsschiff sie aus der tödlichen Umzingelung
befreit.
Die elf verschiedenen wissenschaftlichen
Beiträge, die sich als
Spurensuche zu diesem epischen Roman verstehen, werden eingeleitet
durch einen sehr dichten und kundigen Abriss von Franz Werfels
bewegtem Leben und Schaffen durch den Schriftsteller und Verfasser
einer Werfel-Biographie, Peter Stephan Jungk.
Die einzelnen Artikel beleuchten die
sowohl äußerst fruchtbaren als auch in Zeiten der beiden
Weltkriege und totalitärer und nationalistischer Strömungen
zunehmend schwierigen, verschiedenen Zugehörigkeitsgefühle des
Prager Schriftstellers. Eingebettet in einen illustren Freundes- und
Kollegenzirkel, unter ihnen literarische Größen ihrer Zeit, wie
Franz Kafka, Max Brod und Egon Erwin Kisch, gelangte er zu einer großen
Popularität im deutschen Sprachraum.
Die schwierige Frage der eigenen Identität des Poeten, der „drei
Herzen in sich trug“, ein tschechisches, ein deutsches und ein jüdisches,
löste Werfel in einem tiefverwurzelten Humanismus, der gegen
Nationalismus und Totalitarismus stritt und schon im Titel seines
ersten Gedichtbandes von 1911, Der Weltfreund, anklingt.
Seiner großen Liebe Alma, schreibt er auch angesichts der
Entfremdung von alten Freunden, die in Werfels Hinwendung zum
bourgeoisen Leben seiner Frau und zur Religion und in seiner Abkehr
von einer früher verfochtenen, sozialistischen Haltung einen Verrat
sahen: „Ich gehöre nirgendhin, nirgends, in keine Stadt, in kein
Land, in keine Zeit – ich gehöre nur zu Dir.“
Das Thema der Flucht vor Verfolgung und Tod und der Heimatlosigkeit
aus seinem Roman ist auf tragische Weise mit Werfels eigenem Leben
verbunden. So fällt die erste Auflage seines literarischen Mahnmals
in das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung. Kurz vor
der Veröffentlichung sieht sich Werfel paradoxer Weise gezwungen
eine Loyalitätserklärung zu unterschreiben, die allen Mitgliedern
der Akademie der Künste von den neuen Machthabern vorgelegt wurde,
in der er sich zur Mitarbeit im „national-kulturellen“ Sinne
verpflichtete, um den Roman überhaupt auf den Markt bringen zu können.
Kurz darauf landen sämtliche seiner Werke auf der „schwarzen
Liste“ und fallen den Bücherverbrennungen zum Opfer.
Zum hundertsten Jahrestag des Genozids an den Armeniern ruft die
vorliegende Publikation die starke Stimme des Dichters
in Erinnerung, der einer der Ersten war, der – für eine
menschliche Welt und gegen die Unmenschlichkeit der Systeme – das
Schicksal der Armenier erzählte.
Eine umfassende historisch-politische Aufarbeitung, die, jenseits
von diplomatischem Gezänk, sowohl die türkisch-osmanische Rolle
als auch die Verwicklung der europäischen Mächte in die Kriege und
Massaker um 1915 behandelt, steht weiterhin aus.
(hkl)
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