Hans Georg Hiller von Gaertingen
Schnörkellos.
Die Umgestaltung von Bauten
des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts
Gebr. Mann Verlag, 2012
Was dem unvoreingenommenen Geist wie das
Gegenteil von Architektur erscheint, die Entdekorierung der Bauten
aus der Zeit des Historismus, setzt in den 1920er Jahren ein und
hält ein gutes halbes Jahrhundert an. Das gesamte zwischen 1850 und
1914 entstandene Bauerbe galt als dekorativ überladen und
verkitscht, sein Stuck an Fassaden und Decken musste abgeschlagen,
die gemalten Dekore überstrichen, die Treppen, Geländer und Türen
ausgetauscht werden. Noch nach 1945 bis etwa 1970 verloren mehr als
die Hälfte der im Krieg nicht zerstörten Gründerzeitbauten ihr
Fassadendekor. Erst nach den 70er Jahren und verstärkt seit der
Wiedervereinigung setzte ein Umdenken ein, werden Stuckfassaden
erhalten und Gründerzeithäuser als städtischer Schmuck wahrgenommen.
Die Kritik am Übermaß historistischen Architekturzierats setzte
schon um 1880 ein, doch wie sich aus einer architekturästhetischen
Kontroverse ein Jahrzehnte anhaltender Zwang zur Entdekorierung und
Anonymisierung entwickeln konnte und welche Rolle dabei die
Architekten des Neuen Bauens wie Bruno Taut, Erich Mendelsohn, die
Brüder Luckhardt oder konservative Kollegen wie Hermann Muthesius
spielten, sind die Fragen, denen dieses Buch nachgeht. Ein markantes
und ästhetisch nachvollziehbares Beispiel einer
Fassadenanverwandlung ist die Rothe Apotheke in der Rosenthaler
Straße, Ecke Neue Schönhauser Straße, deren Fassade 1929 nach dem
Beispiel von Hans Poelzigs Bülowplatzbebauung umgestaltet wurde.
Bruno Taut, der als Stadtbaurat von Magdeburg das Fassadenornament
durch seine neue Farbigkeit ersetzte und damit die Entdekorierung
wesentlich mitinitiierte, gehört auch zu den ersten Stimmen, die um
1930 die Begrenztheit und Äußerlichkeit der Fassadenkorrekturen
kritisierten.
Der knapp 500 Seiten starke Band, der als Beiheft 35 in der Reihe
Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin erscheint, untersucht
auch die fortgesetzte Entdekorierungspraxis während des
Nationalsozialismus und die ungleichen Entwicklungen in der
östlichen und in der westlichen Stadthälfte nach dem Zweiten
Weltkrieg. Eine beiliegende Karte dokumentiert vergleichend den
Bestand an entdekorierten und erhaltenen Fassaden des 19.
Jahrhunderts in den Bezirken Kreuzberg und Prenzlauer Berg. Der Band
schließt mit einem Katalog von 217 Bauten aus verschiedenen Städten
Deutschlands und Europas mit einem deutlichen Schwerpunkt auf
Berlin, die zwischen 1915 und 1943 entdekoriert worden. . (ak)
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